Rezensionen zur Sonntagskonzertreihe 2020
Sonntagskonzert Nr. 1 | ...der Grössten Liebe aber Bedarf die Erde
Die eine, die wir lieben
Das erste Sonntagskonzert im neuen Jahr setzt ein hörbares Zeichen zum Klimadiskurs. Denn es drehte sich alles um die Liebe zur Erde. Ein Konzertnachmittag aktueller und bedeutsamer denn je.
Zu Beginn lud Carsten Albrechts eindringliche Chorimprovisation die zahlreichen Besucher der Berliner Philharmonie dazu ein, einem globalen Thema ganz persönlich zu begegnen. Über liegenden Klangflächen wurde der Klimawandel erst thematisiert, dann verleugnet und schließlich anklagend gefragt, wie wir es soweit kommen lassen konnten. Unter dem Eindruck dieses Appells wirkten die nachfolgenden Stücke – Ola Gjeilos Werke „The Fruit of Silence“ und „Wintertide“ – mahnend nach. Auch wenn die melodische Umsetzung manchmal kleinteilig wirkte, war der Auftakt klanglich schön und machte Lust auf mehr.
Im Folgenden stellte das Junge Consortium Berlin unter Leitung von Vinzenz Weissenburger insbesondere mit der Uraufführung von „Forrest“ seine hohe Qualität unter Beweis. Mit dem Werk des US-amerikanischen Komponisten Robert Cohen gelang die angestrebte Symbiose von Ensemble, Leiter und Konzertsaal. Neben großer Homogenität und musikalischer Perfektion zeigte das Junge Consortium eine Haltung innerer Überzeugung, die sich unmittelbar auf den Zuhörer übertrug. Der erste Teil des Konzertes wurde im Anschluss von allen Chören gemeinsam mit dem eindrücklichen „To see a world“ von Sven-David Sandström beschlossen.
Auch die zweite Konzerthälfte begann mit gemeinsam musizierten Werken und machte deutlich, dass die Sonntagskonzertreihe immer wieder zu intensiven und nachhaltigen Kooperationen anzuregen vermag.
Die Cappella Vocale unter dem versierten Dirigat von Carsten Albrecht präsentierte in ihrem Block Werke von Hugo Wolf, Trond Kverno und Ola Gjeilo und bot damit ein in sich stimmiges Programm. In der Gestaltung hätte man sich manchmal mehr Ruhe gewünscht, die dem sonst souveränen Vortrag eine weitere Tiefendimension verliehen hätte. Insgesamt wurde das Publikum Zeuge eines Selbstfindungsprozesses, der für das Ensemble sicher eine langfristige Wirkung entfalten wird.
Sabine Fenskes Vokalkolleg wusste mit musikalischem Experiment zu überzeugen. Neben den beiden populären Titeln „Words“ und „Mad World“ wurde das vormals avantgardistische 4‘33‘‘ von John Cage vorgetragen. Eine noch größere Wirkung hätte das Werk sicher als stummer Schrei am Beginn des Konzertes erzielt, als die Erwartungshaltung im Saal am größten war.
Nach der Zugabe – „Verleih uns Frieden“ von Felix Mendelssohn – sah man Publikum und Mitwirkende gleichermaßen bewegt. Auch wenn die Frage nach unserer Verantwortung für den Planeten letztlich unbeantwortet blieb, berührte die Musik einmal mehr auf ihre eigene Weise. Das erste Sonntagskonzert 2020 erinnerte uns eindrucksvoll an den aktuell wichtigsten guten Vorsatz: Den Schutz der einen, die wir lieben.
Rezension: Nils Jensen
Sonntagskonzert Nr. 2 | Kontraste
Als Fanny Hensel 1846 ihre „Gartenlieder“ op.3 schrieb, lebte sie mit ihrem Mann Wilhelm Hensel im Gartenhaus des elterlichen Anwesens in Berlin. Gut möglich, dass der Anblick des großen Gartens sie zu den Liedern inspirierte. Die Texte romantischer Dichter wie Eichendorff und Uhland durchschreiten die Natur und streben ins Freie.
Die „Gartenlieder“ sind „anmutig“ und verbreiten einen „zärtlichen und poetischen Duft“, so beschrieb sie treffenderweise Robert Schumann.
Das Vokalensemble Acanto, bestehend aus 18 Mitgliedern unter der Leitung von Nataliya Chaplygina, eröffnete das 2. Sonntagskonzert mit diesem sechsteiligen Zyklus. Die kleine Besetzung sang sehr differenziert, mit überzeugender Gestaltung, sicherer Intonation und guter Aussprache und konnte das Publikum sogleich für Fanny Hensels Musik einnehmen.
Acanto entschied sich für eine innige, fast kammermusikalische Interpretation: Die Sänger*innen verzichteten auf die Chorstufen, standen mitten auf der Bühne dicht vor ihrer Chorleiterin. So hatten die Soprane mitunter Mühe, einen vollen und runden Klang entfalten zu können. Vielleicht hätte eine offenere Choraufstellung dem Naturgeist der Lieder eher entsprochen.
Die „Gartenlieder“ op.3 eignen sich ebenso für eine große Besetzung. Zu wünschen ist, dass sie bald Einzug in das Repertoire vieler Chöre halten. Eine klangliche Verwandtschaft mit „Lieder im Freien zu singen“ des Bruders Felix Mendelssohn-Bartholdy ist gut hörbar und gewissermaßen Familienstil, wobei Fanny Hensels Musik durch ganz eigene und besondere harmonische Wendungen besticht. Wenn sie einst enttäuscht über ihr Komponieren schrieb: „Was ist übrigens daran gelegen? Kräht ja doch kein Hahn danach und tanzt niemand nach meiner Pfeife.“, dann lässt sich ihr, auch durch diese Aufführung, entgegnen: Endlich doch!
Der zweite Teil des Konzertes stand unter dem Motto „Kontraste – Musikalische Begegnungen zwischen gestern und heute“.
Der Frauenchor Spandau und das Studentenensemble der Universität der Künste boten Musik von Karol Borsuk, Piotr Moss und Wolfgang Amadeus Mozart – wahrlich Kontraste, die es zu verbinden galt. Teile verschiedener Messen wurden direkt gegenüber- und nebeneinandergestellt, prallten fast aufeinander.
Piotr Moss, ein zeitgenössischer polnischer Komponist, bildete mit seiner fast atonalen, aleatorischen und mitunter minimalistischen Musik einen deutlichen Gegensatz zu den heiteren und unbeschwerten Messteilen der „Missa brevis in B“ von Wolfgang Amadeus Mozart. Einerseits Mozart – klassisch mit Orgel und Streicherbegleitung, andererseits die „Spandauer Messe“ von Piotr Moss – a-cappella und zeitgenössisch. Sie direkt miteinander zu kombinieren, erwies sich als interessante und tragfähige Idee der „Begegnung zwischen gestern und heute“.
Das für dieses Konzert zusammengestellte Studentenensemble der UdK musizierte mit großer Aufmerksamkeit und Einfühlungsvermögen unter der Leitung von Prof. Tomasz Tomaszewski, der mit dem Violinsolo „Hommage an Piotr Moss“ von Karol Borsuk den anwesenden Komponisten ehrte.
Die sich anschließenden „Variationen über ein Thema von Mozart“ sind ein musikalischer Spaß für Streicher, verschmitzt und kurzweilig zeigen sie die kompositorische Vielseitigkeit Piotr Moss‘. Das Studentenensemble hatte sichtbar und hörbar Freude am musikalischen Humor – das Publikum auch.
In der Mitte des Konzertes stand schließlich das Credo aus der „Misdroy Messe“ von Karol Borsuk, der sein Werk auch leitete. Gesetzt für Sopransolo, Orgel, Klavier, Frauenchor und Kammerorchester bündelte es alle musikalischen Kräfte zu einem chorsinfonischen Gesamtklang. Das wortreiche Glaubensbekenntnis ist von Karol Borsuk tonmalerisch erzählend gesetzt, musikalisch changierend zwischen dissonanten Klängen, aufleuchtenden Melodien, Soundeffekten und rhythmisiertem Sprechen. Die 14 Damen des Frauenchores Spandau repetierten in einfachen Floskeln den gesungenen Messtext der Sopranistin. Schade, dass der Chorpart keinen gewichtigeren Anteil am musikalischen Geschehen hatte.
Im Gesamtblick ein kontrastiver und abwechslungsreicher zweiter Konzertteil.
Ein gemeinsamer Abschluss mit allen Ensembles des Konzertes, das Vokalensemble Acanto eingeschlossen, war ganz offensichtlich bei solchen Gegensätzen nicht möglich oder wenig sinnvoll.
Rezension: Vera Zweiniger