Sonntagskonzertreihe 2025 - Rezensionen

Sonntagskonzert Nr. 1 | Chaos & Kosmos

Was für ein Auftakt für die seit über 25 Jahren stattfindende Sonntagskonzertreihe des CVB im Kammermusiksaal der Philharmonie!

Drei Spitzenkammerchöre Berlins haben sich trotz des extrem frühen Termins im Jahr und so kurz nach der mit Konzerten gespickten Weihnachtszeit zusammengefunden, um gemeinsam das Thema „Chaos&Kosmos“ – Verzweiflung und Hoffnung – zu beleuchten.

Die insgesamt fast 80 Sängerinnen und Sänger ließen zu Beginn unter der Leitung von Johannes Stolte die doppelchörige Motette „Ach Herr, straf mich nicht in deinem Zorn“ von Heinrich Schütz (1585-1673) hören. Schon hier konnte man sich über die plastische Darstellung und hervorragende Verständlichkeit des Textes freuen. Nach kurzer intonatorischer Irritation mit dem von Arndt Martin Henzelmann gespielten Orgelpositiv animierte Stolte den großen Chor zu klarer Phrasierung und berührender Ausdeutung des Textes.

Das von Matthias Stoffels geleitete ensemberlino vocale setzte das Programm fort mit einem extrem anspruchsvollen Programm. Die amerikanische Komponistin Amy Beach (1867-1944), ein musikalisches Wunderkind und Pionierin der amerikanischen Frauenbewegung, schrieb die vier Chorsätze, die sich das ensemberlino vorgenommen hatte. „Help us, o Lord“, ein über zehn Minuten sich erstreckendes, bis zu fünfstimmiges Bitten um Gottes Hilfe bei verzweifelten Fragen der Existenz, ist dreiteilig: im ersten tutti-Teil wechseln sich Anrufung und Fragen ab, ein demütiger Frauenchor bildet das Zentrum, dem eine ausgewachsene, fünfstimmige Chorfuge folgt. Die spätromantische Tonsprache der Komponistin enthält unglaublich farbenreiche harmonische Fortschreitungen, deren Intonation für einen Amateurchor kaum erreichbar ist, die der Chor aber nahezu makellos bewältigte. Diesem echten Vokalkoloss folgten noch drei kurze, zarte Sätze derselben Komponistin, die der Chor klangschön und berührend darbrachte.

Sehr erfreulich bei diesem Sonntagskonzert war die Tatsache, dass weiblichen Komponistinnen viel Raum gegeben wurde. So begann das nur 20 SängerInnen umfassende Vokalensemble Kreuzberg unter der Leitung von Johannes Stolte sein Programm mit einer Meditation über Vergänglichkeit und Ewigkeit „Ur drömliv 1“ von der schwedischen Komponistin Elfrieda Andrée (1828-1895). Der zarte, strophisch gebaute Satz stand im krassen Gegensatz zu Rheinbergers (1839-1901) Motette “Warum toben die Heiden?“. Der Vergleich mit der gleichnamigen Komposition von Mendelssohn-Bartholdy drängt sich auf, für die Wucht der wilden Anfangsfragen hätte man sich doch einen etwas größeren Chor gewünscht. Umso schöner gelang das verhauchende Ende „…selig sind alle, die ihm vertrauen“ in zauberhaftem Pianissimo. Etwas erschöpft von dem gewichtigen Stück erklang der sechsstimmige Klagegesang „When David heard“ von Thomas Weelkes (1576-1623), ein guter dramaturgischer Gegensatz zu den romantischen Stücken. Die Anrufung Gottes in größter Not „Timor et Tremor“, entstanden vor Kriegsbeginn 1938, setzt Francis Poulenc (1899-1963) in extremer Dynamik mit kompliziert verdichteter Harmonik um, die Stimmregister werden voll ausgereizt in ihrer Reichweite. Der intelligente kleine Chor stellte sich diesen Anforderungen mutig und mit Temperament. Wiederum eine Komponistin beschloss das Programm vor der Pause: die auf dem Festland bisher weitgehend unbekannte Anna Thorvaldsdottir (1977) stammt aus Island und hat bereits ein vor allem aus Orchesterstücken bestehendes Ouevre vorzuweisen. Der altisländische Psalm „Heyr pú oss himnum à“ wurde vom Vokalensemble Kreuzberg auf isländisch gesungen, ein auf archaischen Quinten ruhender Gesang mit  Dissonanzanreicherungen, die der Chor souverän meisterte.

Nach der Pause überraschte das Consortium musicum Berlin, das letztes Jahr sein 50-jähriges Bestehen feiern konnte, mit einer Aufstellungsvariante: Dem in einer Reihe erhöht im Rang plazierten Chor stand die Solistin Rahel Kramer, auch Stimmbildnerin des Chores, auf der anderen Seite gegenüber – gemäß dem Titel des litauischen Volksliedes „Anoj pusej Dunojelio“ (Auf der anderen Seite der Donau) im Satz von Vaclovas Augustinas (1959). Im Gegensatz zu den ausschließlich geistlichen Textvertonungen der vorangehenden Programmpunkte widmete sich das Consortium musicum in seiner Auswahl weltlichen Varianten von Verzweiflung und Hoffnung.

Charles Hubert H.Parry (1848-1918) komponierte „My Soul, there is a country” nach dem Tod einiger seiner Studenten während des Ersten Weltkrieges. Das expressive Stück wurde vom Chor auswendig gesungen, hochgradig präsent, präzise und ausdrucksstark, der Kontakt zum Dirigenten Arndt Martin Henzelmann war unmittelbar spür- und sichtbar. Die Balten Peteris Vasks (1946) und Veljo Tormis (1930-2017), beide Hauptvertreter baltischer Chormusik ihrer Länder, mussten sich sowjetischer Herrschaft beugen und haben „Widerstandsmusik“ geschrieben. Vasks „Madrigals“ symbolisiert die ersehnte Freiheit kompositorisch mit Improvisationsteilen, in denen sich die ChorsängerInnen frei bewegen und so mit einem tonalen Cluster die Basis für melodietragende Stimmen bilden. Tormis kombiniert in seinem „Laulusild/Bridge of Song“ alte estnische und finnische Texte, eine Brücke zwischen den Völkern: ein rhythmisch akzentuiertes Volkslied durchläuft mehrere Variationen und klangliche Schattierungen. Mit der von Stephen Paulus (1949-2014) gesetzten Pilgerhymne „The Road Home“ – wieder auswendig gesungen und in einer gemischten, tableauhaften Formation – beschloss der Chor sein innovatives Programm.

Am Ende dieses packenden Programms standen zwei Stücke zum Lobpreis Gottes, zu denen sich die drei Chöre vereinten: Urmas Sisasks (1960-2022) rhythmisches, auf vier Tönen gebautes „Benedicamus&Laudate Dominum“ und Anton Bruckners (1824-1896) „Os justi“, was im Publikum die Reaktion hervorrief:

„Ach, war das schön!“

Rezension: Sabine Wüsthoff

Fotos: Stephan Röhl, 2025
Fotos: Stephan Röhl, 2025

Sonntagskonzert Nr. 2 | Männersache

Außen hart und Innen ganz weich …

Drei Berliner Männerchöre gestalten ein gemeinsames Konzert im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie.

Mit dem zweiten Konzert der Sonntagskonzertreihe des Berliner Chorverbandes zogen Volkslied, leichte Muse und auch ein bisschen Pop-Musik in die heiligen Hallen der Hochkultur im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie. Drei traditionsreiche Berliner Männerchöre hatten sich spürbar vorgenommen, ihr Verständnis des Männerchorgesangs zu präsentieren und sich dabei nicht zu ernst zu nehmen. Diese Haltung wurde bereits im Titel „Männersache“ deutlich und ermöglichte es, ohne ideologisch verhärmte Rhetorik auf Chöre zu blicken, die eine hundertprozentige Männerquote umsetzen.  

Das Konzert begann mit zwei gemeinsamen Stücken, die von allen drei Chören gemeinsam vorgetragen wurden. Hier wurden mit der Hymne „Lasst uns wie Brüder treu zusammenstehen“ und „Frisch gesungen“ zwei Klassiker der Männerchorliteratur gewählt, die aufgrund ihres unterschiedlichen Charakters, kurzweilig und passend das Konzert eröffneten. Die drei Chöre entwickelten insbesondere in der Hymne einen mächtigen Klang, der die Begeisterung der Mitwirkenden auf das Publikum übertrug.

Anschließend trug der Männerchor Eintracht 1892 Berlin – Mahlsdorf unter der Leitung von Marcus Chrome seinen Konzertanteil vor. Aus dem volksliedhaften Repertoire stachen dabei die stets zielsicher den Publikumsgeschmack treffenden Variationen über Schuberts „Die launige Forelle“ heraus, die mit viel Eifer vorgetragen wurden und so über manche kleinere intonatorische Unebenheit hinweghelfen konnten. Mit „Kumbayah, my Lord“ wurde noch ein Gospel ergänzt und so die Bemühungen um eine Erneuerung des Repertoires demonstriert.

Der nun folgende Block der Berliner Liedertafel 1884 schloss sich nach dem freundlichen Applaus des recht zahlreich erschienenen Publikums an. Diese präsentierte gemeinsam mit ihrem Dirigenten Vincent Jaufmann und dem Pianisten Uwe Streibel Lieder, die die lange Geschichte des Chores in besonderer Weise berührt hatten. So wurde „Der Käfer und die Blume“ bereits im Jahr 1885 von der Berliner Liedertafel öffentlich aufgeführt, „Jubilate“ vom Gründer Adolf Zander bearbeitet und „Der Blumengarten“ von Wolfgang Poos eigens für die Liedertafel komponiert und stellte gleichzeitig einen der wenigen zeitgenössischen Beiträge abseits der Pop-Musik dar. Mit „Freiheit“ von Westernhagen und „Tage wie diese“ von den Toten Hosen wurde die erste Konzerthälfte stimmungsvoll abgeschlossen.

Nach der Pause präsentierte sich der Männerchor Cäcilia 1890 Berlin. Dieser ursprünglich kirchliche Männerchor geht in der Nachwuchsarbeit einen interessanten Weg, indem sich einige Sänger aus dem Chor zu einem Ensemble „Junge Stimmen“ zusammengefunden haben und sich mit deutscher und englischsprachiger Popmusik auseinandersetzen. So werden erfolgreich junge Nachwuchssänger angeworben und gleichzeitig auch das Repertoire des Konzertchores erweitert. Auch in der Repertoirewahl für dieses Konzert schlug sich dieses nieder. Hier wurde ein Bogen von Schuberts „Lindenbaum“ bis zu „Männer“ von Grönemeyer geschlagen. Dabei entstanden einige Momente komischer Selbstironie, die wieder bestätigten, dass mit viel Humor an das Thema Männerchorgesang heran gegangen wurde.

Zum Schluss des Konzertes wurden erneut alle Sänger der drei Chöre auf die Bühne bemüht. Nachdem sich alle drei Chorleiter nochmals präsentieren konnten, blieb der Eindruck einer harmonischen Zusammenarbeit und ein begeistertes Publikum, das sich nach der obligatorischen Zugabe noch eine weitere Wiederholung erklatschte. Die Sänger auf der Bühne waren angesichts ihrer Rührung und Begeisterung um Fassung bemüht – außen hart und innen ganz weich …

Rezension: Nils Jensen

Sonntagskonzert Nr. 3 | Pop hoch drei

Drei Chöre, ein Sounderlebnis

Am 16. März 2025 lud der Chorverband Berlin zur Sonntagskonzertreihe in den Kammermusiksaal der Philharmonie ein – und feierte mit Spirited, naturenoise und Soundshake die Vielfalt vokaler Popmusik. Unter dem Titel „Pop Hoch Drei“ präsentierten sich drei Ensembles mit ganz eigener musikalischer Handschrift – vereint durch stimmliche Qualität, Ausdruckskraft und Begeisterung für das Genre.

Zu Beginn überraschten alle drei Chöre mit einem gemeinsamen Circle Song, der nicht nur die stilistische Offenheit des Programms ankündigte, sondern auch die Qualität der solistischen Stimmen hervorhob – ein musikalischer „Willkommensmoment“, der das Publikum direkt in die Klangwelt der drei Formationen hinein zog.

Soundshake, unter der Leitung von Florentine Faber, eröffnete das erste Set. Mit Songs wie „Take on Me“ und „Dickes B“ überzeugte der Chor durch ein stilsicheres Pop-Feeling, Humor und Bühnenpräsenz. Besonders hervorzuheben ist das Arrangement von Le Vent Nous Portera (Arr. Thorsten Neumann), das durch eine stimmige Verbindung von erzählerischer Struktur, überraschenden Wendungen und einem theatralen Übergang fast filmisch wirkte.

Es folgte naturenoise – ein mikrofoniertes Ensemble mit schlankem Klangbild und gutem Timing. Das Ensemble, geleitet von Magnus Hellmann, präsentierte Songs wie „Somebody to Love“ und „Seven Days“ in klanglich frischen, überzeugenden Arrangements des musikalischen Leiters. Neben dem vokalen Fundament beeindruckten insbesondere die Solist*innen, die mit technischer Souveränität und Ausdruckskraft glänzten. Der Gesamtklang reichte von intimer Klarheit bis hin zu energetischer Klangfülle.

Nach der Pause übernahm Spirited, geleitet von Ilja Panzer, die Bühne. Mit „True Colors“, „We Found Love“ und „Haze“ zeigte der Chor eine Bandbreite von gefühlvoller Tiefe bis zu rhythmischer Intensität. Besonders auffällig war die durchdachte musikalische Dramaturgie: Jedes Stück hatte seine eigene Atmosphäre, getragen von starker Ensembleleistung, fein abgestimmter Dynamik und emotionaler Aufrichtigkeit. Das Publikum spürte: Hier verschmelzen Klang, Emotion und Bewegung zu einem stimmigen Ganzen.

Den Abschluss bildete ein gemeinsamer Auftritt aller drei Ensembles mit dem Klassiker „Sweet Dreams“ inklusive Publikumsbeteiligung. Ein stimmiges Finale, das das Motto des Konzerts auf den Punkt brachte: Pop kann mehrstimmig, vielschichtig und bewegend sein.

Rezension: Tanja Pannier

Fotos: Stephan Röhl, 2025
Fotos: Stephan Röhl, 2025

Sonntagskonzert Nr. 4 | Change

Wandel – Veränderung – Entwicklung

Im vierten Sonntagskonzert präsentierten der Kronenchor Friedrichstadt, der Mädchenchor III der Sing-Akademie zu Berlin sowie die Kinderkantorei & der Jugendkonzertchor Prenzlauer Berg Nord ein abwechslungsreiches und vielfältiges Programm.

Selten ist im sehr gut besuchten Kammermusiksaal eine so gespannte Stille und Teilnahme an der Musik über die Dauer des gesamten Konzerts spürbar. Dies ist vor allem der spannungsreichen und stimmigen Konzeption des gesamten Programms zu verdanken, die die drei Chorleiterinnen Teresa Pfefferkorn, Kelley Sunding-Donig und Christiane Rosiny gemeinsamen erarbeitet haben.

Den gelungenen Einstieg bildete Monteverdis „Ave maris stella“, bei dem sich neben gemeinsamen Abschnitten auch alle Chöre mit eigenen Parts vorstellten.

Der Kronenchor (Ltg. T. Pfefferkorn) präsentierte anschließend ein dynamisch differenziertes und bravourös artikuliertes „Dieu! qu’il la fait bon regarder“ (Debussy) und brachte zum Ausdruck, wie hingebungsvolle Liebe die Perspektive verändert.

Der Mädchenchor III der Sing-Akademie (Ltg. Kelley Sunding-Donig) bannte das Publikum mit einem durchgehend choreografierten Programm und fließenden Übergängen zwischen den Stücken. Die Vielfalt der Stücke zeigte, dass der Chor verschiedenste Facetten musikalischer Stile bedienen kann und dabei mit homogenem Chorklang überzeugt. Besonders eindrucksvoll ist dies u.a. in der Interpretation des hebräischen Lieds „Ha a Zina“, berührend begleitet von Wassim Mukdad auf der Oud und im hervorragend musizierten „Sonntagmorgen“ von Mendelssohn gelungen.

Stimmgewaltig betrat als drittes die Kinderkantorei & der Jugendkonzertchor Prenzlauer Berg Nord (Ltg. Christiane Rosiny) das Podium. Die 80 Sänger*innen beeindruckten schon allein durch ihre Zahl und  versinnbildlichen das Motto des Konzerts „Change – Hoffnungsträger“ auch auf der Ebene einer lebendigen Weiterentwicklung des Amateur-Chorlebens. Das Programm des Chors umfasst überwiegend geistliche Literatur aller Epochen. Mit Kinder und Jugendlichen Monteverdi den weniger bekannten (Fast-)Zeitgenossen Resinarius einzustudieren ist mutig – und in diesem Fall hervorragend gelungen.  

Beeindruckend war zudem, wie der Chor das Stück „Wirf dein Anliegen auf den Herrn“ (Mendelssohn, Satz von Hans-André Stamm) intonatorisch meisterte. 

Immer wieder wichtig und sehr erfreulich, dass in den Sonntagskonzerten zeitgenössische Kompositionen erklingen, die auch für Amateurchöre umsetzbar sind. Das ist den drei Ensembles in besonderer Weise gelungen, denn es erklangen zahlreiche Werke noch lebender Komponist*innen (u.a. „The Lamb“ von Zuzanna Koziej und „Last Exit Sterne Sehen“ von Daniel Stickan).  

Mit „We Can Mend the Sky“ von Jake Runestad setzten die Chöre einen emotionalen Schlusspunkt.

Im Anschluss an das Konzert waren im Foyer Wortfetzen hörbar wie: „So berührend…!“ oder  „Das Konzert hat mich richtig angefasst.“

…mehr kann man nicht erreichen. Gratulation an alle Beteiligten!

Rezension: Katrin Hübner

Sonntagskonzert Nr. 5 | Wer bin ich?

Wer bin ich – und wenn ja, warum im Kanon?

Wer bin ich? Woran glaube ich? Wo gehöre ich hin? Wie bleibe ich mir treu? Was ist mein Ziel? Wo geht es lang? – diese und ähnliche von den etwa einhundert Sänger:innen in babylonischem Stimmengewirr artikulierte Fragen eröffneten den Nachmittag – und mündeten nahtlos in Faschs barocke Motette „Wer bin ich? Welche wicht’ge Frage“. Dieses Werk, in einer modernen Bearbeitung von Stefan Obendorf, basiert auf dem Choral „Wer nur den lieben Gott lässt walten“, einer Melodie, die seit der Barockzeit als Ausdruck tiefster Zuversicht und innerer Standhaftigkeit gilt. Im historischen Klanggewand offenbarte sich dem Hörer die zeitlose Aktualität der ur-menschlichen Fragestellungen – und zugleich der dramaturgische Spannungsbogen des Konzertes. Die drei Chöre – der Neue Männerchor Berlin, der Mädchenchor der Sing-Akademie zu Berlin und der Schillerchor – sangen diesen Auftakt gemeinsam unter der Leitung von Friederike Stahmer: ein hundertköpfiger Klangkörper, der sich zugleich machtvoll wie geschlossen entfalten konnte.

Die Philharmonie wurde szenisch bespielt, Umbauten wurden zu musikalischen Übergängen.

Im ersten Block spannte der Neue Männerchor Berlin unter der klaren, souveränen Leitung von Adrian Emans einen musikalischen Bogen vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart – und ebenso einen emotionalen von Glaube, über Schicksal bis hin zur Liebe. Mit Willy Richters Motette „The Creation“ formulierte der Chor gleich zu Beginn ein klares Statement: die eigene Einbettung in das große Ganze der Schöpfung: ein spiritueller Auftakt, mit großer Vielfalt. Mit „Domine, non sum dignus“ von Tomás Luis de Victoria folgte eine musikalische Demutsgeste: ein ruhiges, langsam fließendes Werk, das sie mit großer Spannung und innerer Ruhe gestalteten – ein mutiges, bewusst entschleunigtes Tempo, getragen von klanglicher Präsenz und präziser Linienführung.

Auch in Heinrich Sutermeisters abwechslungsreichen Schilfliedern und Carl Steinackers zarter Miniatur Sehnsucht bewiesen die 14 Sänger ihr feines Gespür für Klangfarben und emotionale Tiefe. Emans führte mit wohldurchdachter Klarheit und unbeirrbarer Gestaltungskraft und ließ dem Publikum große musikalische Momente erleben. Gemeinsam mit den Männerstimmen des Schillerchores rundete Ralph Vaughan Williams’ „Linden Lea“ diesen Teil mit einem vollen, homogenen Männerchorklang ab – warm, satt und klanglich diszipliniert: Männerchor vom Feinsten.

Doch im Kontrast zu seinem fast kontrollierendem und dadurch den Sängern weniger eigenen Raum gebenden Dirigat ließ Friederike Stahmer ihren Mädchenchor mit viel Vertrauen und Mut zur Eigenständigkeit agieren. Sie setzt hörbar auf ein energetisches, körperlich fundiertes Musizieren. Bewegungssequenzen erweiterten den Ausdruck, auch wenn gelegentlich die feine Schattierung einzelner Stimmungen zugunsten der Gesamtwirkung zurücktrat.

Doch gerade im Zusammenspiel von Klang, Bewegung und Ausdruck gelang den jungen Sängerinnen eine eindrucksvolle Präsenz: lebendig, fokussiert, beweglich im besten Sinne. Stahmer schafft mit ihrer empathischen, klaren Leitung einen sicheren Raum, in dem sich junge Stimmen entfalten können – nicht als bloße Repräsentation eines Chorbildes, sondern als individuelle Persönlichkeiten im Kollektiv.

Thematisch führten die Stücke des Mädchenchores von Rollenbildern (Il est bel et bon, La jeune fille en feu) über Naturerleben und Liebesfreude, vertont von romantischen Komponist:innen bis zur existenziellen Frage: Was bleibt von uns? Besonders eindringlich gelang dies mit Lao Rahal Soti, einem Stück zwischen Klage und Hoffnung. Die Komponistin Shireen Abu-Khader vertonte ein Gedicht von Samih Choukeir – ein Text, der die Verstummten in Krieg und Vertreibung zum Sprechen bringt. Die jungen Sängerinnen brachten das Werk mit großer Eindringlichkeit zur Geltung – zerbrechlich, klagend, zart und zugleich tröstend.

Einen ganz anderen Ausdruck fand der Chor im „Song of Hope“ von Susanna Lindmark. Der Chor formierte sich wie eine vielarmige, bewegliche Medusa – ein Symbol für eine verletzte, aber mächtige Frau, deren Schmerz zur Kraftquelle wird. In Lindmarks Stück wächst aus Sprachlosigkeit eine neue Sprache: aus der Ohnmacht eine Bewegung. Die jungen Frauen verkörperten diese Transformation eindrucksvoll – als mythische Figur in klanglicher Bewegung.

Der Schillerchor unter Paul Johannes Roßmann ergänzte das Spektrum der Klangfarben – mit einer verbindenden vokalen Mitte, die dem Nachmittag Tiefe und Textur verlieh. Roßmanns Dirigat war gleichermaßen fokussiert wie offen – er suchte spürbar nach dem emotionalen Kern jedes Werks und arbeitete mit feinem Ohr für Dynamik, Text und Atmosphäre.

Der thematische Blick richtete sich auf Herkunft, Flucht und Ankunft. Während Roßmanns Zugang zu Josquin Desprez’ „Praeter rerum seriem“ eher verhalten blieb, beeindruckten er und sein Chor mit großer Gestaltungsfreude an zeitgenössischer Musik und Mut auch zu herausfordernden Werken. In Sheena Phillips’ „Songs of Sorrow“ entstand ein multiperspektivischer Klangraum des Verlustes. Vertreibung wurde als kollektives wie persönliches Trauma spürbar – nah und beklemmend aktuell. Die Verbindung von historischer Tiefe und Gegenwartsbezug war stark.

Das folgende Werk „O vos omnes“ von Alberto Ginastera – ein Auszug aus den Lamentationes Jeremiae – entfaltet eine breite Palette emotionaler Zustände, in dem der Argentinier seine eigenen persönlichen Erfahrungen mit politischer Unterdrückung reflektiert und das der Chor souverän wiederzugeben verstand:  Worte von zweieinhalb Jahrtausenden Brisanz.

In „Praeter rerum seriem“ von Josquin Desprez wählte Roßmann eine zurückhaltendere Lesart, um dann mit Daan Mannekes vielschichtiger Psalmvertonung das Konzert in eine spirituelle Öffnung zu führen. Gregorianische Linien, moderne Harmonien, ein sehnsuchtsvoller Blick ins Himmlische Jerusalem – oder in die Utopie einer friedlicheren Welt. In diesem Werk wurde deutlich: Die Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Chormusik ist eine Stärke des Ensembles. Die Zusammenarbeit mit lebenden Komponist:innen zeigt Wirkung – hörbar, spürbar, zukunftsweisend.

Der Schlussmoment schließlich war ein Geschenk: Qui habitat in auditorio Altissimo von Josquin Desprez – ein 24-stimmiger Kanon, der rund um das Publikum im Kreis gesungen wurde. Aus allen Richtungen strömte Klang, vibrierend, körperlich erfahrbar, Ein sphärisches Finale, das Zuversicht hörbar machte: Wir sind viele – und nicht allein.

Langanhaltender Applaus beschloss einen Konzertnachmittag, an dem drei Chöre und drei künstlerische Handschriften auf eindrucksvolle Weise zueinander fanden – wie zu Beginn, stimmig vereint im doppelten Sinne.

Rezension: Cornelia Schlemmer

Fotos: Stephan Röhl, 2025